Juni 2024
Kneipp-Gesundheitsvisite Juni 2024
Über den Stellenwert der Kneippschen Naturheilverfahren in der Traditionellen Europäischen Medizin
Gesundheitsförderung ist etwas Individuelles – und gelingt doch gemeinsam noch besser. Das wusste Sebastian Kneipp schon Ende des 19. Jahrhunderts und veranlasste eigenhändig die Gründung der ersten Kneipp-Vereine in Deutschland. Heute vereint das Kneippsche Gesundheitskonzept Menschen auf der ganzen Welt, unabhängig von Alter, Gesundheitszustand, Herkunft oder sozialem Status. Und davon profitieren Körper, Geist und Seele gleichermaßen. Die ganzheitliche Kneipp-Philosophie in der Gemeinschaft zu leben, macht besonders viel Freude – und die regionalen Kneipp-Vereine bieten jede Menge Möglichkeiten dazu.
Auf den ersten Blick scheinen Kneipp-Vereine eher etwas für die ältere Generation zu sein. Ein Trugschluss, denn beim Kneipp-Bund spielt auch die Jugendarbeit eine große Rolle, richtig? Fakt ist, dass unsere Gesellschaft immer älter wird. Die Menschen leben länger, sie wollen sich ihre Lebensqualität bis ins hohe Alter erhalten. Ältere Menschen kennen die Methoden und die Wirkung der Kneipp-Naturheilverfahren, denn oft sind sie mit ihnen aufgewachsen. Da es in der Vergangenheit an Kneipp-Angeboten für die junge Generation gefehlt hat, fördern wir die Kneipp-Idee inzwischen bewusst an Schulen und in Kindertagesstätten und legen so den Grundstein für eine neue Kneipp-Generation. Bundesweit gibt es bereits rund 480 zertifizierte Kitas sowie 40 Schulen. Schwieriger ist die systematische Einbindung der Kneipp-Lehre in den Sekundarschulen, da hier oft andere Themen Vorrang haben. Grundsätzlich ist es aber so, dass die Lebensführung nach der Kneipp-Lehre generationenübergreifend ist und die Generationen verbindet. In unserer privaten Weiterbildungsakademie und unserer Berufsfachschule für Massage und Physiotherapie in Bad Wörishofen bilden wir für die Zukunft aus.
Welchen Stellenwert hat für Sie die Naturheilkunde heute und wie sehen Sie die zukünftigen Entwicklungen? Der Begriff Naturheilkunde ist unscharf, weil er nicht genau definiert ist. Er wird leider oft synonym für alle möglichen „komplementären“ oder „alternativen“ Heilverfahren verwendet, auch für recht technisch anmutende und invasive Eingriffe, bei denen die Frage aufkommt, was daran wohl natürlich oder „naturgemäß“ sein soll. Die Kneippschen Verfahren entsprechen klassischem europäischen Gedankengut, weswegen wir auch den Begriff einer „traditionellen Europäischen Medizin“ (TEM) vorgeschlagen haben. Sie steht auf Augenhöhe mit der aus chinesischen Überlieferungen entwickelten Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) oder Ayurveda.
Weil Sie die Traditionelle Chinesische Medizin ansprechen: In den Angeboten der Kneipp-Vereine und auch der Sebastian-Kneipp-Akademie finden sich heute immer mehr Therapien, die Sebastian Kneipp nicht kannte und die Ihren Ursprung in Asien haben. Gefällt Ihnen diese Tendenz? Ja, Anwendungen aus der Traditionellen Chinesischen Medizin, beispielsweise Tai Chi, haben ihre Berechtigung. Gerade bei der Stressbewältigung gibt es die verschiedensten Angebote. Die Kneipp-Idee basiert darauf, dass jeder das findet, was seiner Gesunderhaltung nützt und was zu ihm passt, um Entspannung und Ausgleich zu finden. Unser ganzheitliches Gesundheitskonzept profitiert von über 100 Jahren Erfahrung und entwickelt sich offen für innovative Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung. Damit leisten wir einen wertvollen Beitrag zur Gesundheit unserer Gesellschaft.
Der Kneipp-Bund unterhält ein Büro in Berlin. Ist der Einfluss eines unabhängigen und gemeinnützigen Vereins mit starken bayerischen Wurzeln auf die Gesundheitspolitik des Bundes überhaupt möglich? Die Entscheidung, in Berlin mit einem Büro vertreten zu sein, wurde vor 20 Jahren getroffen und hat sich absolut bewährt. Mit unserem Hauptstadtbüro vertreten wir die Interessen der Kneipp-Bewegung in unmittelbarer Nähe zur Politik und Krankenkassen, und wir vernetzen uns mit anderen Fachverbänden, bauen neue Netzwerke auf, beteiligen uns an Initiativen und Kampagnen und führen eigene Veranstaltungen durch, beispielsweise das Kongressformat „Zukunft Prävention“. Das Büro in Berlin ist sozusagen das „Gesicht“ des Kneipp-Bundes in der Hauptstadt. Wir wissen alle, heute mehr denn je, dass Prävention und Gesundheitsförderung DAS zentrale Thema der künftigen Gesundheitspolitik sein müssen, damit unser Gesundheitssystem nicht kollabiert. Dafür müssen wir wegkommen vom Fokus der Behandlung von Krankheiten und die Salutogenese in den Vordergrund stellen, also die Frage „Was hält mich bzw. was hält die Menschen gesund?“ Damit können wir ein Vielfaches an Krankheitskosten sparen. Allerdings geht die Prävention über die reinen Vorsorgemaßnahmen oder Impfungen hinaus. Hier muss die Politik deutlich mehr Anreize schaffen und viel stärker ressort- und sektorenübergreifend denken. Der Kneipp-Bund hat das Inkrafttreten des ersten Präventionsgesetzes 2015 als Meilenstein gefeiert, unsere Forderungen gehen aber darüber hinaus: Prävention muss als vierte Säule des Gesundheitswesens, gleichberechtigt neben Kur, Rehabilitation und Pflege, im Gesundheitssystem etabliert werden.